Postnukleares Rapunzel im Kühlturm
PNRIK - eine postnukleare Persiflage auf das Leben in der Moderne.
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PNRIK! - Teil 1: Das Rapunzel
Das ewige von vorn Anfangen in meinem Leben erinnerte mich stark an ein stumpf designtes Computerspiel. So ein billig programmiertes, bei dem man vor Langeweile und
innerem Zorn fast eingeht, sobald der Schriftzug LEVEL 1 zusammen mit einer heroischen, motivierenden Foltermelodie wieder einmal auf dem Bildschirm erscheint. Oft dachte ich, was für
verbitterte, traumatisierte Spielfiguren solche digitalen Welten doch beherbergen müssen. Zauberer und Elfen, die in Endlosschleifen gefangen sind und ständig ihre magischen Energiekristalle
einsammeln müssen, wie Sisyphos aus der antiken Sage. Damals war das eine Strafe der Götter für das Jenseits, während heute ewig wiederkehrende Abläufe unsere irdische Existenz bestimmen. Würde
man der Gestaltung unserer Realität auf diesem einmaligen Planeten nur so viel Aufmerksamkeit widmen wie der Erschaffung eines binären Zeiträubers!
Eine Realität, die bereits mit den fantasievollsten Charakteren, den komplexesten Spielzügen und der ergreifendsten 3D-Animation ausgestattet ist, die man sich
vorstellen kann. Bloß ist keiner interessiert, in dieser Welt ein Held zu sein. Rekursion – klingt wie eine akademische Studienreise, ausgesucht aus einem
Reiseportal, die man so nötig hat, um für zwei Wochen dem Arbeitsdelirium zu entfliehen; gemeint ist aber das immer Wiederkehrende. Man kennt es aus der Mathematik, Informatik, Logik oder der
Kunst in angewandter Form; jene Technik, in der eine Funktion durch sich selbst definiert wird. Ich erinnere mich, als ich aus hipper Neugierde meinen Rechner mathematische Formeln in Fraktale
umrechnen ließ und die Faszination dieser unendlich schönen Strukturen dazu führte, dass ich mein komplettes Wohnzimmer umdekorierte.
Menschen definieren ihr Leben durch sich selbst, bis zu ihrem Tod. Unzählige philosophische Schriften
wurden dazu verfasst, und es fing alles einmal damit an, dass irgendwann einer unserer Vorfahren versuchte zu ergründen, wieso er eine eigene Welt in der bereits existierenden Welt mit sich
herumtragen muss. Das Selbst zeigt uns Bilder, es beschließt Lösungen, induktiv, es verzögert eine Ausgabe unserer Existenz, lässt uns innerlich erstarren oder eilt zu schnell und wir rasen in
einen Konflikt. Zum ersten Mal hörte ich den Satz von meiner Mutter: „Seit ich denken kann, regieren die Mächtigen und ertragen die Schwachen.“ Dann saß ich in meinem Zimmer, umgeben von
Wachsmalstiften bevorzugt in schwarz und grau, und überlegte, was vor dem Denken kam. Als Grundschulkind gab ich mir ordentlich Mühe, meine Außenwelt verstehen zu lernen. Nettigkeiten waren mir
suspekt, weil ich sie nie mit der realen Häufung von Verschlagenheit und Hinterlist zusammenbrachte. Schon in der ersten Klasse ergab es für mich keinen Sinn, einen anderen Mitlebenden als netter
oder weniger nett einzustufen, rein aus der Ferne. Disziplin lernte ich von meinen Eltern und es wurde mir nahegelegt, dem mir bis dahin so ungeahnten Selbst, nur Bedeutung zu schenken, wenn die
Umwelt ausgeschlossen und man allein mit seinen Malstiften war. Später dachte ich oft daran zurück, an jenes Gefühl des wachsenden Selbst, das noch so unbedarft daherkam, ohne sich am Gefallen
der Außenwelt zu zerreiben bis auf Knochen. Blanke Stellen bringt man mit therapeutischen Gesprächen zur Heilung. Man kann auch ein zweites Selbst kreieren, aus dem Stehgreif, als hätte man eine
wichtige Textpassage auf der Theaterbühne vergessen, freut sich, dass dieses Ersatz-Ego so lässig mithält. Natürlich hält diese Freud nicht lange vor. Spätestens nach der Begegnung mit anderen
der eigenen Spezies und der erweiterten Erkenntnis, dass diese Anderen gleich Dutzende Zusatz-Egos ausformen, um dich auszuplündern, als wären sie ohne Fremdinhalte lebensunfähig, ziehst du dich
mit den Malstiften zurück, wie Soldaten hinter eine Frontlinie. Da sitzt du, so Stunden oder Tage, unterziehst dich schizophren anmutenden Befragungen. Kritisierst das Selbst, motivierst das
Selbst überhöhend und haust dir abschließend imaginär kräftig in den Rücken. Manche erleiden bei dieser Prozedur Schäden an der Wirbelsäule und büßen schließlich Rückgrat ein. Das ist bitter,
denn es führt zu einer Überlagerung zweier oder sogar mehrerer Egos. Plötzlich heiligt ein Zweck alle Mittel, man verliert den Kontakt zur Basisstation seiner Seele und spricht ohne Gewissen.
Schlimmstenfalls wird das eigene System der Wertung von mächtigen Stimmen der Außenwelt derart überlagert, dass die Leichtigkeit der Fremdbestimmung wie eine gute Droge aus der Patsche hilft. Zum
Schein heilig, ist das Dogma. Scheinheiligkeit ist eine eklatante Form der Gewissenlosigkeit, denn sie überzeichnet sich selbst mit Moralität, meint aber eigentlich eine völlig andere, meist
niedere Absicht.
Mit vierzehn Jahren erfuhr ich, dass ein Schultisch eine Atombombe abwehren kann, wenn man sich ordentlich darunter verkriecht, unter dem Tisch, nachdem eine Sirene ertönt war. Während
ein Telefonkabel nicht nur der Kommunikation dient, sondern als Antidot des Lebens Verwendung findet, meistens mithilfe der Strangulation.
Ab einem Gewissenzeitpunkt zerfällt das Selbst in Gesellschaft, eine hochgelobte Einheit, die in historischen Werken als elementares Teilchen des Menschseins abgefeiert wird. Danach wird es
stiller im Kopf. Entweder, weil inzwischen eine Menge Neuronen dem Genuss von Bränden zum Opfer gefallen sind, oder durch irreversible Resignation. Es gab Tage, da ertrug ich die Stille sehr
schlecht. Geräuschkulissen wurden gebaut, aus Wäldern, in die man ständig hineinruft. Ich durchlebte drei Beziehungen, die mir zeigten, dass es Menschen gibt, denen das Hineinrufen am Gehirn
vorbeigeht und der Output der Dissonanz ein erwünschter Effekt ist, mit dem Unterdrückung und Zwietracht gesät wird. Leider hatte ich Pech, das Schicksal designte das übelste Exemplar des
Endgegners für mich und ich verlor den Kampf. Mein erster Therapeut versuchte es mit Trostspende, der zweite mit Psychopharmaka, deshalb entschloss ich mich zur Flucht, landete aber mitten im
Krieg. Zu dieser Zeit dachte ich, meine Taktik ändern zu müssen und gab mir die Schuld an der Außenwelt so wie sie ist, mein Werk. Als ich dann noch den Schmerz der Trauer und den Verlust
ehrlicher Zuneigung erfuhr, wie Zuckerguss auf rohem Fleisch, beendete ich das Spiel. Verhaltensforscher sagen, die Trotzphase eines Kindes kann anzeigen, wie gut man im Erwachsen sein wird.
Bonuspunkte gibt es aus dem Erbgut der Vorfahren, die können beim Re-Boot eine Rolle spielen, wenn wir Rollen spielen. Seit Beginn der Entwicklung des Spiels, sind Milliarden gestorben. Wer den
Zugriffscode zum God-Mode nicht kennt, muss sich mühselig durch unzählige Ebenen quälen, Mitspieler erledigen, Verbandspäckchen einsammeln oder man lässt sich enthaupten vom Feind, um wieder von
vorn zu beginnen.
Antike Philosophen wunderten sich über die Existenz der Güte; es war ihnen nicht so recht klar, wozu Lebewesen das bräuchten. Jahrtausende vergingen sich an falschen Propheten, aber keiner Dekade
gelang der Durchbruch. Bis heute suchen sie. Sie suchen Frieden auf einem Schlachtfeld, Geborgenheit in der Kälte der Einsamkeit, Belohnung für den Zufall, am Leben zu sein. Was lehrt uns die
Evolution, wenn nicht, dass Fehlfunktion eine temporäre Schwäche ist und unsere augenscheinlich gute Programmierung niemals erklären wird, was wiederkehrt und was nicht. Mensch mit Selbst sind
ein Paar des ewigen Verlangens nach Vollständigkeit, in einer Welt der unendlichen Wahrscheinlichkeit ohne Bestimmung. Leid ist unsere Sprache, weil Dasein immer bedeutet, die Suche endet ohne
unser Selbst im Nichts.