Mein Geständnis ist, ich habe die Sozialen Medien von Beginn an nie als sozial definiert.
Für mich war die Absicht, ein systemisches Marketingnetz aufzubauen, leicht erkennbar, und ich muss mich bis heute einer nicht enden wollenden Verwunderung ergeben, warum Milliarden von Menschen
einer autokratisch-binären Ordnung mit solch einer Inbrunst folgen. Es wäre ein Fall für die moderne Verhaltensforschung. Auf der Suche nach einer virtuellen Freiheit, verlieren sie sich im Netz
der Spinne. Die Sache ist die: kein Algorithmus wird uns vor unserem eigenen Schicksal bewahren können, Homo sapiens sapiens zu sein. Keine noch so innovative Maschine wird verbergen können, wer
wir sind und woher wir ursprünglich kommen. Der Schlüssel unserer intellektuellen Entwicklung liegt in uns selbst begründet und ist ein biochemisches Vermächtnis unseres Planeten an uns. Was
unsere Vorfahren weiterreichten, das ist unsere Datenbank, verschlüsselt im Genom, eine einzigartige Software für jedes Lebewesen. Unentwegt aktualisiert. Finden wir nicht zum Verständnis zurück,
was Menschsein bedeutet, verlieren wir den Kampf gegen uns selbst. Jeden Tag beim Erwachen unseres Bewusstseins müssen wir uns wieder und wieder in Erinnerung rufen, dass dieser Planet, die Natur
und ihre Evolution, uns nicht braucht. Wir hingegen sind hilflos, von Leid und Schmerz zerfressene Kreaturen, die vor langer Zeit verlernten, was Leben bedeutet. Deshalb finden wir Trost in
Etwas, das hinter LCD- und TFT-Bildschirmen liegt, denken, wir könnten die gesamte Biologie der Welt ausrotten, desinfizieren, keimfrei machen, während unsere physische Existenz schlappmacht,
unser ur-eigenes Abwehrsystem nicht mehr mithalten kann und unser hoch gepriesener Lifestyle in künstlich beleuchteten Zimmern ohne Anwesenheit von Erde stirbt, wie ein Baum ohne Sonnenlicht und
Wasser.
Unser Immunsystem ist Millionen Jahre alt und unsere von der Evolution entwickelte einzige Firewall, die wir besitzen.
Zu dieser Firewall gibt es kein Upgrade von Microsoft, auch keine CRISPR-Fantasie, unsere Kräfte mit magischen Versprechungen kluger Verkäufer zu amplifizieren. Ein biologisches Abwehrschild muss
man trainieren wie einen Muskel. Greifen wir durch technologische & pharmakologische Add-ons zu stark in Mechanismen ein, die uns nach langer Reifung an unsere Umwelt angepasst haben,
schwächen wir unsere körpereigenen Waffen. Das bestätigt die moderne Forschung der Molekular- & Mikrobiologie. Degenerative Prozesse sind unumkehrbar in der Biologie: ist der Punkt des
physikalisch-chemischen Zerfalls eingeläutet, gibt es kein Zurück, auch nicht durch weitere chemische Zusätze. In unseren Zellen ist ein Countdown eingebaut, wir altern und sterben, weil nur dann
Leben angepasst und weitergeführt werden kann. Diese Prinzipien sind es, die unsere Welt erbauen. Milliarden Jahre komplexer Prozesse, die uns trotz aller Bemühungen der Forschung, jegliche
Geheimnisse des Universums zu lüften, verwehrt bleiben werden. Wir sind eben nicht Gott. Oder für Atheisten: nicht allwissend. Wir sind an einem Meilenstein angelangt, an dem wir endlich Atem
schöpfen und unsere Identität wiederfinden sollten, um unsere Grenzen des Wissens anzuerkennen. Das bewahrt uns nicht nur vor der Gefahr, in einem Wahn von Überheblichkeit durch Geo-Engineering
den Rest des Lebens auf unserem Planeten zu zerstören, weil wir in unseren leidlich billigen Computermodellen eben nie die gesamten Faktoren eines chaotischen Prinzips abbilden können; es bewahrt
uns auch davor, dass unsere Manie, niemals zufrieden zu sein, tatsächlich von einem epigenetischen Einfluss auf unsere Spezies zu einer manifestierten Veränderung unseres Erbguts werden könnte.
Leben begünstigt nicht das Gute, es ist eine endliche, aber rekursive Versuchsreihe der Anpassung, und sollte die Mehrheit der Menschen die Fähigkeit eigener neuronaler Vernetzung in sich selbst verlieren, stirbt die Spezies. Ethisch können wir natürlich trefflich darüber streiten, ob es den anderen Lebewesen, die mit uns diese Welt teilen, ohne Homo sapiens sapiens nicht besser ergehen würde. Bedauerlich wäre es dennoch, gemessen am Aufwand, den Natur betrieben hat, aus einer RNA-Sequenz eines Virus einen komplexen Organismus wie den unseren herangezüchtet zu haben. Mit einem Bewusstsein ausgestattet, welches uns die Option gibt, unser Handeln zu überdenken. Aber seien wir nicht hochmütig, davor warnen alte Schriften vieler Kulturen nicht grundlos seit Jahrtausenden; auch unser Hauszuchttier, die Katze, oder der Hund, überlegen, wie sie am geschicktesten durchs Leben kommen. Auch Schweine, Rinder und Truthähne; wenn wir sie denn ließen. Wir sind nicht vollkommen, nur Baureihe.
Der Grund, warum ich eine Weile aus den Sozialen Medien ausstieg, lag auf der Hand: Es war Zeitverschwendung.
Wir haben eben nichts von der Natur gelernt, trotz der Tatsache, ein Teil von ihr zu sein. Unsere digitale Schöpfung ist verkrüppelt, asozial und bestimmt von dem einzigen Trieb, den Erbauern und
Betreibern mit Bereitstellung unserer Lebenszeit und unseren selbst erdachten Inhalten, die Macht über unsere Entscheidungen zu geben. Es gab in meinem Leben noch nie den Punkt, bei all den
herrlichen und schrecklichen Erinnerungen, die mich ausmachen, an dem ich das Gefühl hatte, Dasein hätte keinen Sinn. Als ich von einem Auftrag in Stuttgart und Hamburg Mitte März zurückkam, in
den kommenden Tagen erfuhr, dass ich als Freelancer durch den Pandemie-Lockdown meine gesamten Aufträge verloren hatte, verbrachte ich zwei Monate in Isolation. Ich nutzte diese Phase für meine
ganz persönliche Konklusion, die ich sicher nicht mit der Weltöffentlichkeit oder Google teilen werde. Sie steht geschrieben, auf Papier. Meiner Meinung nach erhalten die falschen Inhalte in
unserer Gesellschaft das öffentliche Gewicht der Medien. Es gibt da Draußen eine Menge Leute in verantwortlichen Positionen, die aus Bequemlichkeit und Selbstüberschätzung weder ihr Studium zu
Ende brachten, noch irgendeine Qualifikation erworben haben, noch einen Sinn in eigener Fortbildung sehen, sich ihr Leben lang durch Gefälligkeiten, Unmoral und Korruption an anderen Menschen
vorbeiquetschen. Oder Menschen, die auf gewissenhafte Überlegung, sachliche Diskussion ohne Wunsch nach Stardom Wert legen. Menschen, die mit 200 Followern herumeiern, deren Texte maximal zehn
Nutzer zu Gesicht bekommen, die jedes Wort fünfmal überprüfen, bevor sie es veröffentlichen, um niemanden zu verletzen – es sind Algorithmen, die eben jene unterstützen, die am lautesten keifen,
gackern und am wenigsten für unsere Gesellschaft tun. Soll keine Beleidigung sein, Hühnchen!
Die Maschine Social-Marketing setzt auf Verbreitung nach Art der Heuschrecke.
Es gab dazu bereits eine Debatte. Das Klicken auf besonders oberflächliche, schrille Postings, Prominenzmeinung und niedere Beweggründe, stammt von den gleichen Machern der goldenen Versprechung,
die auch von Myspace behaupteten, „jeder begabte“ Künstler bekäme endlich eine faire Chance, sich ein Publikum aufzubauen und von seiner Kunst leben zu können. Nur, um ein leeres html-Script zu
füllen und Anzeigenkunden zu gewinnen. Wir, mit dem Gewissen und der Sensibilität, hinter schale Marketingfassaden zu blicken, Konzernabsichten zu hinterfragen, werden geduldet, weil wir als
Kontroverse eine Weile nützlich sind, um Traffic zu generieren.
Vergüten, möchte unsere Arbeit niemand mehr.
Meine Kolleginnen und Kollegen haben die Wahl, sich in die nächste SEO-Fortbildung zu stürzen, den nächsten Kurs zur nächsten Software, um „das Netz“ noch besser zu verstehen und noch effizienter für weniger Bezahlung zu arbeiten; oder sie steigen aus, suchen sich einen Job in der Landwirtschaft oder im Supermarkt. Waren einsortieren, solange es noch Menschen tun dürfen. Mein genetischer Bauplan, bedauerlicherweise mit einem Defekt an der Marketinsequenz, und ich, bleiben in dieser Welt auf der Strecke. Die Zuversicht, nach unzähligen Verbesserungskursen, für meine Leistung, Expertise, mein Fachwissen oder gute Menschenkenntnis einen zumindest existenzsichernden Lohn zu erhalten, ist mit dem Hashtag „Corona“ verloschen.
Ein auf Null und Eins basierendes Konstrukt, versucht DNA Paroli zu bieten.
Wie lächerlich ist das? Angesichts all der kreativen Talente, die wir besitzen und die wir nach all unserer Phasen der Zerstörungswut einsetzten, um erneut Symphonien zu erschaffen. Wir
verschwenden kostbare Zeit mit jämmerlichen Versuchen, Maschinen das Musikmachen beizubringen, während unsere größten Komponisten als Obdachlose in den Straßen verrecken und bis heute das
einmalige, mathematisch-musikalische Werk einer Toccata & Fuge von Bach jeder Wissenschaft der Neuzeit Rätsel aufgibt.
Wir sind auf dem Holzweg.
Das ist, was mir mein Genom sagt.
Naturgesetz ist, die Zukunft wird zeigen, ob mein Bausatz einen Nutzen für unsere Spezies bringt, oder ob ich mit unzähligen meiner Art einfach verschwinde. 2055 wird der letzte Leseroboter meine von einer Marketingfirma gespeicherten Blogbeiträge willkürlich verfremdend verwirrten Kinderseelen vorlesen, wie einst die Dogmatiker der Religionen, die wir heute so verlachen. Danach gibt es keine Leseroboter mehr, denn Macht braucht keine kommunikative Menschensprache; sie basiert auf Programmzeilen. Denjenigen unter Euch, die an ein glorreiches Zeitalter der Neuronalen Netze glauben, an Bionik und andere Halbkunst zwischen Polymeren, Polygonen, 3D-Spritzguß und biotechnologisch gezüchtetem Gewebe, empfehle ich eine Recherche über aktuelle Stellungnahmen von Neurowissenschaftlern zum Thema „Mensch-Maschinen-Symbiose“. Sehr ernüchternd und erhellend zugleich. Forschung ist wichtig, aber nicht um jeden Preis.
Mein Schlussbericht 2020 mag vielen Lesern sicher negativ gewichtet erscheinen, aber oft verbirgt sich hinter einer Orwell’schen Vision oder einem furchteinflößenden Sci-Fi-Szenario eines Asimov,
der gleiche versteckte Code wie man ihn schon in antiken Dokumenten oder auf Tontafeln der Ahnen entziffern konnte: es geht nicht um das unvermeidliche Ende, es geht um die Einsicht – und mag
diese noch so schmerzhaft sein – den langen Weg tatsächlich umsonst gegangen zu sein.
Um mit einer anderen Idee, einem neuen Versuch, an einem anderen Ort wieder sichtbar zu werden. Neuorientierung heißt auch, niemals seine Kernkompetenz (CORE) als Mensch aufzugeben. Aus einem
sehr alten, ägyptischen Papyrus stammt der simple Rat „Folge deinem Herzen, solange du lebst.“
Ich saß mit einem alten Fischer bei frischem Minztee am Nilufer, um diesen Satz zu ergründen. Das ursprüngliche Wissen spricht noch heute aus diesen Menschen, bewundert von Archäologen,
verkitscht von Touristen des schnellen Augenblicks. „Was bedeutet dieser Satz?“, fragte ich ihn. Er blickte nach oben, in den dunstigen Himmelsspiegel des Flusses, eine sanfte Sonne verbarg
sich hinter den Wolken. „Es bedeutet, dass wir nichts bestimmen und das Leben keinen Sinn braucht, sondern ein Herz.“ Dabei lachte er breit und deutete mit dem Finger ins Universum.